Synästhesie: Klänge sehen, Farben hören
Künstler wie Franz Liszt und Wassily Kandinsky hatten ihn wohl, viele Wissenschaftler besitzen ihn ebenfalls: einen zusätzlichen Wahrnehmungskanal. Das Vermögen, Töne als Farben zu sehen, Worte zu schmecken oder Buchstaben zu fühlen, wird als Synästhesie bezeichnet. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen: "syn" bedeutet "zusammen", "aisthesis" das Empfinden – eine passende Beschreibung für das Phänomen, dass bei der Reizung eines Sinnesorgans mindestens ein weiteres miterregt wird.
Was ist Synästhesie?
Synästhesie ist eine besondere Form der Wahrnehmung. Die Synästhesie ist keine Erkrankung und keine Einbildung oder Halluzination. Vielmehr handelt es sich um ein neurologisch-pychologisches Phänomen, das häufiger auftritt als man bisher vermutete. Neuere Forschungen gehen von bis zu 4 % Synästhetikern in der Bevölkerung aus.
Früher wurden Synästhetiker bestenfalls als etwas verschroben belächelt, in den letzten Jahren ist das Phänomen bekannter geworden und wird eher als zusätzliche Begabung empfunden. Auch für Psychologen und Neurowissenschaftler bietet Synästhesie ein spannendes Forschungsfeld, zumal sie hoffen, damit mehr darüber zu erfahren, wie die menschliche Wahrnehmung überhaupt funktioniert.
Typische Anzeichen einer Synästhesie
Synästhetische Empfindungen sind nicht beeinflussbar: Sie entstehen unwillkürlich als Folge eines bestimmten Auslösers – oft einfache geometrische Formen, aber auch abstrakte Begriffe wie Wochentage oder Zahlen, Töne und sogar Gefühle.
Jede Synästhesie ist eindeutig: Ein bestimmter Reiz löst beim einem Synästhetiker eine bestimmte zusätzliche Empfindung aus, die genau für diesen Reiz reserviert ist. Empfindet er z. B. ein A als blau, ist der Blauton eines H anders. Auch sind die Erlebnisse nicht umkehrbar: Löst der Klang einer Trompete bei einer Person die Farbempfindung "Rot" aus, hört sie nicht eine Trompete, wenn sie diesen roten Farbton ansieht. Synästhetiker empfinden ihre Wahrnehmungen als natürlich, erinnern sich auch später genau daran und können sie exakt beschreiben.
Das Farbhören (Audition colorée), also Farbassoziationen beim Hören von Geräuschen ist die häufigste Form der Synästhesie. Diese Empfindungen werden auch als Photismen (phos = Licht) bezeichnet; Hörempfindungen, die durch nicht-akustische Sinnesreize ausgelöst werden, entsprechend als Phonismen (phone = Stimme). Sogar blinde Synästhetiker können beim Klang bestimmter Geräusche, Musik oder Stimmen sehähnliche Erfahrungen haben – so wurde bereits aus dem Jahr 1710 von einer Person berichtet, die trotz ihrer Blindheit klangbedingte Farberlebnisse beschrieb.
Wird Synästhesie vererbt?
Frauen sind von der Synästhesie eher betroffen als Männer - Schätzungen schwanken zwischen einer nur geringfügig erhöhten bis zu einer 7-fachen Häufigkeit. Betroffene berichten, dass sie "schon immer", "soweit sie sich zurückerinnern können" mit der Kopplung ihrer Sinne leben.
Mittlerweile gibt es Anzeichen dafür, dass Neugeborene prinzipiell über solch eine Fähigkeit verfügen, bei den meisten Menschen aber diese zusätzlichen Synapsen nach einigen Monaten verkümmern. Warum dies bei Synästhetikern nicht der Fall passiert, ist noch unklar. Da es aber in Familien gehäuft vorkommt, könnte es durchaus genetisch bedingt und damit vererbbar sein.
Interessant ist, dass bestimmte Eigenschaften bei Synästhetikern häufiger als bei anderen vorkommen. Dazu zählen Hochbegabung und Kreativität, aber auch Geräuschempfindlichkeit und Aufmerksamkeitsstörungen. Vielleicht kann man sich das als positive und negative Folgen der vermehrten Reizwahrnehmung vorstellen, geklärt sind die genauen Zusammenhänge bisher nicht.
Synästhesie ist nicht erlernbar
Auch Menschen ohne Synästhesie haben zuweilen Erinnerungserlebnisse, in denen einige Sinne teilweise zusammenspielen. So fühlt man bei einer bestimmten Musik genau das Verlangen, das man 20 Jahre zuvor beim Tanz zu diesem Lied mit der Angebeteten hatte, oder riecht den Apfelkuchen der Großmutter, die beim Backen immer genau zu diesem Schlager summte. Aber solche bewussten Sinnesverknüpfungen haben nichts mit dem typischen, angeborenen Farbsehen zu tun. Bei Nichtsynästhetikern werden Sinnesreize bestimmten Situationen zugeordnet und so im Gehirn abgelegt. Damit entsteigen sie beim Erinnern auch wieder gemeinsam dem Gedächtnis. Richtige Synästhesie erfolgt aber unwillkürlich, spontan und ohne dass der Betroffenen sie vorhersehen oder aus seinem Bewusstsein herausfiltern kann.
Medizintechnik zeigt, was vorgeht
Synästhesie hat nichts mit Halluzinationen zu tun, sie erfolgt bei ungetrübtem Bewusstsein. Dass z. B. das Farbsehen keine Einbildung der Betroffenen ist, konnte die moderne Medizin belegen. Das EEG und vor allem die funktionelle
Magnetresonanztomographie können in Echtzeit die Aktivität einzelner Gehirnareale darstellen. Auf diesem Wege konnten Wissenschaftler zeigen, dass bei Synästhetikern bei nur einem Sinnesreiz – in den meisten Fällen ist es ein Ton – nicht nur das Hörzentrum, sondern gleichzeitig auch das Sehzentrum aktiviert wird. Die Farberlebnisse sind also "echt", selbst wenn der Betroffene der einzige ist, der sie sehen kann.