Craniomandibuläre Dysfunktion: Was hilft bei CMD?
Wenn eine Fehlregulation zwischen den Muskeln sowie Gelenken des Unterkiefers (lat. Mandibula) und des Schädels (lat. Cranium) vorliegt, spricht man von den Folgeerkrankungen im Sammelbegriff von einer Craniomandibulären Dysfunktion (CMD).
Dr. Dr. Manfred Nilius, Facharzt für Mund- und Kieferchirurgie, erklärt im Interview, warum diese verschiedenen Fehlstellungen des Kiefers und der Zähne auch die Ursache für Kopf- und Rückenschmerzen sein können und wie man eine CMD behandeln kann.
Wie entsteht eine CMD?
Nilius: Wenn man nach den Ursachen einer CMD fragt, gibt es vier verschiedene Bereiche des Körpers, von denen die Probleme ausgehen können:
- die Kau- und mimische Muskulatur
- die Kiefergelenke
- die Zähne und der Zahnhalteapparat
- das Nervensystem
Wenn einer der vier Bereiche überbeansprucht wird und dadurch eine Fehlregulation entsteht, betrifft dies häufig auch die anderen Bereiche des Kiefersystems.
Konkret können also beispielsweise Zahnfehlstellungen, Verspannungen der Kiefermuskulatur oder Nervenerkrankungen Auslöser für eine ganze Reihe an Symptomen sein, die auf eine CMD zurückzuführen sind.
Kann auch Stress eine CMD auslösen?
Nilius: Ja, emotionaler Stress kann häufig eine CMD begünstigen. Wenn wir unter Stress stehen, ist der Nervus Sympathicus, das sympathische Nervensystem, aktiver als sonst. Es ist über einzelne Nerven stark mit dem Unterkiefer verbunden. Wir spannen die Schultern an, verkrampfen und beißen wortwörtlich die "Zähne zusammen".
Dadurch kann es zu einer Verkürzung der Kaumuskulatur kommen, was wiederum zu Kopfschmerzen und Kieferfehlstellungen führen kann. Wer nachts also mit den Zähnen knirscht, versucht im Schlaf, Stress abzubauen.
Welche Symptome könnten auf eine CMD hinweisen?
Nilius: Es gibt eine breite Palette an Symptomen, die mit einer CMD zusammenhängen können. Wenn Patienten zu mir kommen und von einem Druck oder Schmerzen im Kiefer in Richtung der Ohren berichten, kann man davon ausgehen, dass solch eine Kieferfehlregulation vorliegt.
Weitere Symptome, die für eine CMD sprechen, sind:
- Kopfschmerzen
- Muskelkater im Kiefer
- Gelenkeknacken beim Öffnen des Kiefers
- abgeriebene Zähne
- abgeschliffene Eckzähne
- Schonhaltung des Kiefers
- Beckenschiefstand
- Schulterschiefstand
- Druck und/oder Schmerzen im Kiefergelenk
- Ohrenschmerzen
Wann muss eine CMD behandelt werden?
Nilius: Wer sich nur über das Knacksen der Kiefergelenke wundert und keine Beeinträchtigung im Alltag spürt, muss nicht zwangsläufig etwas gegen die Kieferfehlregulation tun.
Wer Schmerzen im Kiefer hat oder mit Zahnschwund zu kämpfen hat, sollte auf jeden Fall mit dem behandelnden Arzt sprechen, welche Möglichkeiten es gibt, die CMD individuell zu behandeln.
Von welchen Ärzten kann eine CMD diagnostiziert werden?
Nilius: Da sich eine CMD auf viele Teile des Körpers auswirken kann, kommt es auf den Bereich des Körpers an, von dem die Schmerzen oder die Probleme ausgehen. Nicht nur der Zahnarzt kann dann der richtige Ansprechpartner sein, sondern auch ein Orthopäde, ein Chirurg oder sogar ein Psychotherapeut.
Wie wird eine CMD bei einem Zahnarzt diagnostiziert?
Nilius: Zunächst führt man eine zahnärztliche Anamnese durch. Man bringt in Erfahrung, ob Zähne gezogen wurden, ob ein gleichmäßiger Aufbiss der Zähne vorliegt oder ob man einen Stützzonenverlust im Backenzahnbereich zwischen den beiden Kieferhälften beobachten kann.
Zudem kann man sich die Gesichtsstruktur des Patienten ansehen und gegebenenfalls abtasten: Wie verläuft die Muskulatur? Gibt es Unregelmäßigkeiten im Verlauf der Kiefermuskulatur?
Im Zweifelsfall kann mit einem Elektromyogramm die Aktivität des Muskels gemessen werden und so herausgefunden werden, ob es sich um eine muskuläre oder eine nervlich bedingte Ursache der CMD handelt.
Auch die Diagnose einer dauerhaften Verkrampfung der Nacken- und Halsmuskulatur kann zu der weitergehenden Beurteilung des Ausmaßes der CMD beitragen.
Wer kann außer einem Zahnarzt eine CMD behandeln?
Nilius: Wenn eine Verspannung der Muskulatur des Kiefers vorliegt, kann beispielsweise ein Hausarzt Medikamente zur Entspannung der Muskulatur verschreiben.
Sollten Probleme mit der Wirbelsäule bestehen, kann ein Orthopäde oder in schweren Fällen auch ein Kieferchirurg aufgesucht werden.
Wenn eine zu starke emotionale Belastung im Alltag des Patienten der Auslöser für die CMD ist, kann auch ein Psychotherapeut helfen, den Stress zu lösen.
Welche Arten der Behandlung einer CMD gibt es?
Nilius: Für einen Zahnarzt ist es das Einfachste, eine Knirscherschiene anzufertigen, um den Zähnen die Belastung des nächtlichen Knirschens abzunehmen. Die Schiene aus Kunststoff verhindert dann das Abreiben der Zähne und kann so vor weiteren Folgen einer CMD schützen. Die Aufbissschiene löst jedoch nicht das Problem des Knirschens an sich. Das können nur gezielte Entspannungsübungen und langfristige Stressreduktion.
Alternativ können auch sogenannte "Table-Top-Veneers", eine Art zementierte Teil-Krone, auf die Kaufläche des Zahns angebracht werden, um dadurch weiteren Zahnverschleiß verhindern.
Wenn eine Muskelverhärtung vorliegt, kann auch Botox in die Kiefermuskulatur injiziert werden und so zu einer Entspannung des Kiefers führen.
Wenn schon eine Entzündung des Kiefergelenks (Arthritis) besteht, kann diese mit anti-rheumatischen Medikamenten sowie mit Bewegungs- und Dehnübungen therapiert werden.
Sollte die Arthritis in eine Arthrose (Gelenkverschleiß) übergehen, kann unter Umständen ein operativer Eingriff notwendig sein.
Gibt es auch alternative Heilmethoden, die zur Anwendung kommen können?
Nilius: In vielen Fällen kann auch eine Akupunktur oder eine Moxibustion, eine Wärmetherapie aus der Traditionellen Chinesischen Medizin, helfen.
Alternativ können Schmerzen und Krämpfe im Kiefer auch mit Homöopathie behandelt werden. Hierbei sollten die jeweiligen Mittel und deren Dosis von einem Homöopathen individuell zusammengesetzt werden. Ansatz ist hier vor allem die entspannende Komponente für die Kiefermuskulatur.
Immer ratsam ist die regelmäßige Bewegung des gesamten Körpers im Allgemeinen, aber auch des Kiefers im Speziellen zur Lockerung der Kaumuskulatur. In einigen Fällen kann auch eine gezielte physiotherapeutische Behandlung, beispielsweise von Muskelverkürzungen der Gesichtsmuskulatur, zur Linderung der Beschwerden sinnvoll sein.
Ab wann ist ein operativer Eingriff notwendig?
Nilius: Nur in den seltensten Fällen ist ein chirurgischer Eingriff vonnöten. Wenn das Gelenkband im Kiefergelenk teilweise oder vollständig reißt, kann man dies mit einer Bänderraffung oder einer Banderneuerung beheben.
Zu den minimal invasiven Verfahren bei der Behandlung einer CMD gehört auch die sogenannte Lavage ("Wäsche"), bei der versucht wird, die Entzündungsursache aus dem Kiefergelenk zu spülen.
Was kann man als Patient selbst gegen eine CMD tun?
Nilius: Zunächst sollte man versuchen, seinen Lebensstil zu ändern und die Warnsignale einer Überlastung des Körpers ernst zu nehmen. Dazu steht an erster Stelle, emotionalen und physischen Stress zu reduzieren.
Zudem können folgende Tipps helfen, eine CMD zu verhindern oder zu verbessern:
- Achten Sie auf Ihre Haltung: Stellen Sie sich vor, ein an Ihrem Hinterhaupt befestigter Faden würde Sie in eine aufrechte Position ziehen – auch wenn dann ein kleines Doppelkinn entsteht.
- Achten Sie darauf, wie und wie lange Sie vor dem Computer sitzen. Am besten sind eine gerade Sitzposition und eine Positionierung des Bildschirms auf Augenhöhe, sodass Sie nicht stark nach vorne schauen und den Kopf zu stark nach hinten neigen müssen.
- Passen Sie Ihre Brille regelmäßig an Ihre Sehstärke an. Wer nicht optimal sieht, neigt dazu, den Kopf dem Bildschirm oder dem Buch entgegenzustrecken und verliert die gesunde Haltung.
- Entspannen Sie den Kiefer bewusst: Lockern Sie öfters mal Ihre Kiefermuskeln und massieren Sie Ihren Kiefer und das Kiefergelenk gelegentlich, um die Kiefermuskulatur zu entspannen.
- Schlafen Sie auf einem eher flachen Kopfkissen. Wer auf einem zu hohen Kopfkissen liegt, überbeansprucht die Nackenmuskulatur.
- Versuchen Sie, regelmäßig Sport zu treiben. Auch Sport hilft den Muskeln, besser zu entspannen, und kann zudem emotionalen Stress abbauen.
Wer also einen gesunden Lebensstil führt und versucht, Stress zu vermeiden, kann einer bestehenden CMD optimal entgegenwirken oder deren Entstehung sogar vorbeugen.
Kann eine CMD vollständig geheilt werden?
Nilius: Wird eine CMD frühzeitig erkannt, liegt die Erfolgsquote mit der richtigen Therapie bei circa 80 Prozent. Es lohnt sich also, bei Kiefer- und Nackenbeschwerden den Zahnarzt oder Hausarzt darauf anzusprechen.
Was passiert, wenn man eine CMD nicht therapiert?
Nilius: Im schlimmsten Fall kommt es zu einer CCD, einer Craniozervikalen Dysfunktion. Diese Verkürzung der Nackenmuskulatur muss von einem Orthopäden behandelt werden und geht meistens mit starken Schmerzen einher.
Wenn es zu einer Arthrose kommt, sind starke Gelenkleiden und Knorpelschwund nicht selten.
Wer lange nichts gegen eine CMD unternimmt, läuft Gefahr, chronischer Schmerzpatient zu werden. Ein Zahnarzt ist hier dann oft machtlos. In einer Schmerztherapie folgen dann Behandlungen mit minimalen Dosen an Schmerzmitteln oder Antidepressiva, welche die Schmerzwahrnehmung abschwächen. Die Fehlregulationen rund um das Kiefersystem können dann nur noch eingedämmt, nicht aber rückgängig gemacht werden.