Wie man Phantomschmerzen behandelt
Ein Phantom ist etwas, das es eigentlich nicht gibt, eine Einbildung oder eine Erscheinung. Doch für Otto K., 62, ist der so genannte Phantomschmerz in seinem amputierten rechten Unterschenkel mehr als real: "An manchen Tagen ist der Schmerz so stechend, als würde ich mit einem Messer attackiert. An anderen Tagen kribbelt und juckt es im Fuß und an anderen Stellen, die gar nicht mehr da sind."
Phantomschmerzen bei jedem zweiten Amputierten
Etwa 60.000 Amputationen werden jährlich in Deutschland durchgeführt, davon entfallen 70 Prozent auf Diabetiker – auch Otto K. verlor seinen Unterschenkel wegen eines nicht heilenden Geschwürs. Er litt unter dem diabetischen Fußsyndrom, das meist als Folge eines chronisch schlecht eingestellten Blutzuckers entsteht, wobei langfristig die Nervenenden geschädigt werden. Druckstellen oder Verletzungen spürte er nicht mehr, Wunden hat er erst sehr spät bemerkt, als sie nicht mehr heilten. In Deutschland werden jährlich bis zu 27.000 Fußamputationen bei Menschen mit Diabetes durchgeführt.
Über zwei Drittel aller Amputationen sind durch arterielle Durchblutungsstörungen verursacht. Die Zahl der gefäßkranken Menschen wird in Deutschland auf vier bis sechs Millionen geschätzt. So gesehen ist das Risikopotential weit höher als man zunächst annimmt. Unfälle verursachen vier Prozent aller Amputationen. Ebenso hoch ist in etwa der Anteil von Amputationen, die durch Infektionen und Tumoren bedingt sind. Und etwa jeder zweite Betroffene leidet – oft jahrelang.
Bei einem Teil sind die Schmerzen ständig vorhanden, häufiger jedoch treten sie plötzlich auf. Wetteränderungen, aber auch Stress oder Genussmittel wie Kaffee können die Auslöser sein.
Schmerzen im Stumpf
Stumpfschmerzen sind im Gegensatz zu Phantomschmerzen genau lokalisiert im Bereich des Amputationsstumpfes. Bei fast 60 Prozent aller Amputationen können sie spontan oder nach dem Anpassen einer Prothese auftreten. Patienten beschreiben diesen Schmerz als brennend, elektrisierend, schneidend, stechend oder krampfartig. Fast immer handelt es sich um einen Dauerschmerz, der sich auf Störungen bei der Wundheilung zurückführen lässt. Auch Druckstellen durch eine schlecht sitzende Prothese, Entzündungen wie zum Beispiel Eiteransammlungen unter der Haut (Abszesse) oder Knochenmarkentzündungen können die Ursache sein, in manchen Fällen sind auch Durchblutungsstörungen im Stumpf.
Was nach Abtrennen eines Körpergliedes häufig passiert: Am äußeren Ende eines durchtrennten Nervs entstehen so genannte Neurome, das sind gutartige Knotenbildungen. Sie sind empfindlich und reagieren auf Stimulation jeglicher Art mit großen Schmerzen. Schon eine normale Berührung kann die starken Schmerzen verursachen.
Schmerz bleibt im Gedächtnis
Die Mehrheit aller Frauen und Männer mit Amputationen leidet unter Phantomschmerzen. Dabei kommt es zu Schmerzen in den nicht mehr vorhandenen Extremitäten der Betroffenen. Man nimmt an, dass das Gehirn weiterhin Schmerzsignale aus den Nerven empfängt, die früher für diesen Körperteil zuständig waren. Phantomschmerzen werden bei einigen Patienten auch in anderen Körperregionen empfunden, etwa nach der Entfernung einer Brust, nach Enddarm-Operationen oder nach dem Ziehen von Zähnen (insbesondere Weisheitszähnen).
Häufig sind die Schmerzen nachts stärker als am Tage. Typisch ist auch, dass der Phantomschmerz dem Schmerz vor der Amputation ähnelt. Schuld ist das Schmerzgedächtnis: Bei jeder Verletzung oder Entzündung senden Schmerzrezeptoren elektrische Impulse an das Rückenmark. Von dort aus werden die Nervensignale an das Gehirn weitergeleitet. Hier entsteht die Empfindung Schmerz. Bei einem starken und lang anhaltenden Reiz kann sich der Schmerz verselbständigen. Es entsteht ein schwer zu löschendes Schmerzgedächtnis.
So können beispielsweise die starken Schmerzen vor oder während einer Amputation sehr häufig Spuren im Rückenmark und Gehirn hinterlassen. Daher bekommen Patienten heute vor Amputationen oft einen so genannten Kreuzstich, also eine Spinalanästhesie, bei der die Nerven im Rückenmark betäubt werden und so einer Überempfindlichkeit des Rückenmarks vorgebeugt werden soll.
Schmerztherapie mit Medikamenten
Beim Behandeln von Phantomschmerzen müssen häufig unterschiedliche Möglichkeiten versucht werden, bis eine angemessene Schmerzlinderung erreicht wird. Zu den gängigen Schmerztherapien gehören bei schweren Schmerzanfällen Opiate wie zum Beispiel Morphine und verwandte Medikamente. Diese Medikamente sind nicht frei verkäuflich wie die gängigen Schmerzmittel (Acetylsalicylsäure, Ibuprofen). Die Dauertherapie bei kontinuierlichen oder häufigen Schmerzen könne mit verschiedenen Medikamenten erfolgen.
Wichtig ist, dass die Medikamente vom Arzt nach gründlicher Anamnese und eventuell in Zusammenarbeit mit einer Schmerzambulanz verordnet werden. Manchmal werden Schmerzmittel mit Antidepressiva, Mitteln gegen Epilepsie oder speziell an den Nerven ansetzenden Wirkstoffen kombiniert. Sie heben die Reizschwelle der Nervenzellen für Schmerzsignale.
Auch das Hormon Calcitonin wirkt in Studien Phantomschmerzen entgegen. Es handelt sich dabei um ein Schilddrüsenhormon, ein Peptid aus 32 Aminosäuren, und kann bei Osteoporose den Knochenabbau bremsen, indem es der Calciumfreisetzung aus den Knochen entgegenwirkt und den Calciumspiegel im Blut senkt.
Ergänzend werden physikalische Verfahren wie Elektrostimulation (TENS) angewendet: Schwache Stromreize, die mit Elektroden auf den Amputationsstumpf übertragen werden, regen im Gehirn neue Verbindungen zwischen Nervenzellen an. Diese „überschreiben" die alten, schmerzhaften Eindrücke. Manche Patienten jedoch schwören auf Reiz-Freiheit und tragen einen speziellen Stumpfüberzug, der elektrische Reize abschirmen soll.
Bäder, Massagen und Krankengymnastik sind in vielen Fällen sinnvoll, sollten aber auf die individuellen Bedürfnisse und Vorlieben der Patienten eingehen. Akupunktur kann zur Schmerzlinderung beitragen. Wer ein Körperteil verliert sollte, darin sind sich die Mediziner einig, eine psychologische Begleitung zur Verlustbewältigung sowie eine Verhaltenstherapie erfahren. Auch dies ist eine Möglichkeit, mit dem Schmerz umzugehen. Tatsache aber ist: Es gibt bis heute keinen einheitlichen Therapieansatz, allerdings einige neue und viel versprechende Möglichkeiten.
Spiegeltherapie
Es klingt ein wenig wie Hokuspokus, wie manche Mediziner, Therapeuten und Patienten Phantomschmerzen überlisten wollen: Denn durch einen geschickt platzierten Spiegel sieht es für den Patienten so aus, als sei die Spiegelung des gesunden das amputierte Körperglied. Dieser optische Eindruck ist es, der im Gehirn eine Erinnerung an den fehlenden Arm oder das Bein weckt. Es hört auf, die nicht mehr vorhandenen Eingangssignale aus den Nerven der betroffenen Extremität durch Schmerz zu ersetzen.
Die Methode funktioniert auch bei Schlaganfallpatienten, die unter Lähmungen oder Wahrnehmungsstörungen leiden. Prof. Dr. Christoph Maier und die Ergotherapeutin Susanne Glaudo haben zwei Trainingsgeräte entwickelt, die das Üben vor dem Spiegel erleichtern und auch zu Hause eingesetzt werden können. Auch hier ist es wieder das Gehirn, das Empfindungen schafft, denn dort gibt es eine Art Abbild des ganzen Körpers, in dem die Empfindungen aus den jeweiligen Körperteilen verarbeitet werden. Wenn nun die Signale aus dem amputierten Arm oder Bein fehlen, ersetzen bestimmte Zentren im Gehirn diese fehlenden Informationen durch Schmerz, erläutert Susanne Glaudo.
Der Effekt lässt sich sogar noch verstärken, wenn der Patient mit der gesunden Hand, die er nur im Spiegel betrachtet, Geschicklichkeitsübungen macht oder die Hand bzw. das Bein im Spiegel ansieht, während Sinneseindrücke z.B. durch die Berührung mit einer Bürste oder einem Igelball hervorgerufen werden.
Prothesen
Es gibt sogar Hinweise, dass eine Prothese hilft, Phantomschmerzen vorzubeugen. Der Grund: Um das künstliche Bein zu bewegen, muss der Patient Oberschenkelmuskeln aktivieren. Das Gehirn registriert diese Bewegungen und gewinnt den Eindruck, dass das Bein intakt sei. Daher können sich Phantomschmerzen durch das regelmäßige Tragen einer optimal angepassten Prothese sogar zurückbilden. Bei einem Teil der Amputierten mit Phantomschmerzen bessern sich diese von alleine, verschwinden manchmal sogar völlig. Vorhersagen lässt sich der Verlauf allerdings nicht.