Münchhausen-Syndrom: Was ist das?
Das Münchhausen-Syndrom – benannt nach dem berühmten Lügenbaron – zählt zu den artifiziellen Störungen. Betroffene täuschen Erkrankungen vor, beziehungsweise führen diese absichtlich herbei. Eine Sonderform ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (Münchhausen-by-Proxy-Syndrom), bei dem statt der eigenen Person Dritte geschädigt werden. Oftmals fügen hierbei Mütter ihren Kindern Schaden zu. Nachdem meist kaum Krankheitseinsicht gegeben ist, gestaltet sich die Behandlung des Münchhausen-Syndroms schwierig.
Was ist das Münchhausen-Syndrom?
Beim Münchhausen-Syndrom handelt es sich um eine psychische Störung, die zu den artifiziellen Störungen zählt. Beschwerden und Krankheiten werden dabei vorgetäuscht oder absichtlich herbeigeführt, also künstlich erzeugt, zum Beispiel durch Selbstverletzung.
Betroffene zeigen meist kaum Krankheitseinsicht, denn das schädigende Verhalten und die damit verbundene Aufmerksamkeit sind für das psychische Gleichgewicht wichtig. Somit reagieren Betroffene auf Konfrontation vermeidend und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der zugrundeliegenden Problematik wird abgelehnt. Grundsätzlich sind sich Menschen, die vom Münchhausen-Syndrom betroffen sind, über ihre Täuschung zwar bewusst, manchmal können Realität und Fiktion jedoch durchaus verschwimmen.
Menschen, die am Münchhausen-Syndrom leiden, sind von Simulant*innen und Hypochonder*innen abzugrenzen. Während beim Simulieren aufgrund bestimmter Interessen Erkrankungen vorgetäuscht werden, steht ein konkreter Nutzen, wie etwa finanzielle Anreize, beim Münchhausen-Syndrom nicht im Fokus. Personen mit Hypochondrie sind demgegenüber überzeugt, tatsächlich erkrankt zu sein.
Warum aber heißt es Münchhausen-Syndrom? Das liegt auf der Hand: Ihren Namen verdankt die Störung dem Baron Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen, der auch als Lügenbaron bekannt wurde und dessen Lügengeschichten in die Weltliteratur eingingen.
Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom als Sonderform
Ebenfalls eine Form der artifiziellen Störung ist das sogenannt Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Was aber ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (auch Münchhausen-by-Proxy-Syndrom; "by Proxy" = durch Stellvertreter) genau? Hierbei fügen Betroffene nicht sich selbst Schaden zu, sondern Dritten. Meist sind die eigenen Kinder die Opfer, doch grundsätzlich kann es jeden treffen. So gibt es auch Fälle, in denen Tiere die Leidtragenden sind.
Anfangs werden hierbei häufig Krankheitssymptome erfunden, später dann (zum Beispiel durch das Manipulieren von Blutwerten) vorgetäuscht. Schließlich kommt es zum Zufügen von Verletzungen oder Erzeugen von realen Symptomen, etwa durch das Verabreichen von Medikamenten oder anderen schädlichen Substanzen.
Den erkrankten Menschen geht es hier ebenfalls um die Aufmerksamkeit anderer, die sie als fürsorgliche und pflegende Bezugsperson ihrer Opfer erhalten, aber auch um die Rolle als tröstende und beschützende Stütze, die ihnen das Gefühl gibt, einzigartig und unersetzlich zu sein.
Wenngleich natürlich auch Väter am Münchhausen-by-Proxy-Syndrom leiden können, betrifft der Großteil statistisch erfasster Fälle Mütter und ihre – meist noch sehr kleinen – Kinder. Es handelt sich also um eine Form der Kindesmisshandlung. Auch hier muss die Dunkelziffer als sehr hoch angenommen werden.
Wie bekommt man das Münchhausen-Syndrom?
Die Ursachen für das Münchhausen-Syndrom sind wissenschaftlich bisher nicht geklärt. Es ist aber anzunehmen, dass verschiedene Faktoren ungünstig zusammenspielen. Risikofaktoren sind neben einer familiären Vorbelastung – vor allem wenn ein Elternteil betroffen ist – vorwiegend Traumata in der Kindheit. Als solche werden etwa frühe Verluste, Vernachlässigung, Gewalterfahrung oder sexueller Missbrauch beschrieben.
Auch vorliegende Persönlichkeitsstörungen wie etwa das Borderline-Syndrom, Narzissmus sowie dissoziale Persönlichkeitsstörungen erhöhen das Risiko für das Münchhausen-Syndrom. Nicht zuletzt dürften Störungen des Selbstbildes sowie ein starkes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuwendung eine entscheidende Rolle spielen.
Wer ist vom Münchhausen-Syndrom betroffen?
Die psychische Erkrankung tritt zumeist im Erwachsenenalter erstmals auf und zeigt sich in ganz unterschiedlicher Ausprägung. Die Dunkelziffer darf als sehr hoch angenommen werden, weil die Störung oft lange nicht erkannt wird und weil sich Betroffene geschickt entziehen, sobald sie sich entlarvt sehen. Eine Kombination mit anderen psychischen Erkrankungen – vor allem Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen – ist beim Münchhausen-Syndrom relativ häufig.
Wie äußert sich das Münchhausen-Syndrom?
Wichtigstes Anzeichen des Münchhausen-Syndroms ist das bewusste Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Erkrankungen. Dabei werden Beschwerden häufig stark überzeichnet dargestellt.
Werden Symptome erzeugt, bleiben selbstverletzende Verhaltensweisen dabei nicht aus. Klassische Beispiele hierfür sind bewusst herbeigeführte Schnitt- oder Brandwunden sowie Verätzungen. Auch infektiöse oder verunreinigte Substanzen werden unter die Haut gespritzt, oder man manipuliert den Insulinspiegel. Manchmal mengen Betroffene ihrem Urin Blut bei oder nehmen sich selbst Blut ab, um eine Anämie (Blutarmut) herbeizuführen. Nach operativen Eingriffen wird zudem häufig die Wundheilung sabotiert.
Neben dem Vortäuschen und Herbeiführen von Erkrankungen lassen weitere Anzeichen auf das Münchhausen-Syndrom schließen. So werden dem medizinischen Personal häufig invasive Therapien abgerungen, zum Beispiel Infusionen oder nicht notwendige Operationen. Zudem rufen Eingriffe bei Betroffenen kaum Bedenken hervor, sondern werden bereitwillig akzeptiert. Ebenfalls auffällig: Betroffene erleben Behandlungserfolge nicht positiv. Oftmals bleiben diese auch ganz aus, weil sie immer wieder sabotiert werden.
Wie Baron Münchhausen neigen Patient*innen zu Lügengeschichten. Wahrheit und Fiktion verschwimmen und das Lügenkonstrukt wird mit aller Macht aufrechterhalten. Dieses pathologische Lügen bezeichnet man in der Fachsprache als Pseudologia phantastica.
Auch ein übermäßig häufiges Aufsuchen von Arztpraxen beziehungsweise Krankenhäusern ist auffällig. Fallen dem medizinischen Personal Ungereimtheiten auf, kommt es zu Kontaktabbrüchen und der*die Arzt*Ärztin wird gewechselt (Ärzte-Hopping). Auch im privaten Umfeld finden Beziehungsabbrüche statt, wenn es zur Konfrontation kommt. Das führt nicht selten zu sozialer Isolation.
Symptome im Überblick
Diese Symptome zeigen sich beim Münchhausen-Syndrom:
- Erzeugen oder Vortäuschen körperlicher oder psychischer Krankheiten
- selbstverletzende oder selbstschädigende Verhaltensweisen
- Erzwingen von Behandlungen
- Freude über Behandlungserfolge bleibt aus
- Verzögerte oder ausbleibende Behandlungserfolge
- pathologisches Lügen
- häufige Arztbesuche beziehungsweise Arztwechsel
- Kontakt- und Beziehungsabbrüche
Wie wird das Münchhausen-Syndrom diagnostiziert?
Die Diagnose des Münchhausen-Syndroms ist sehr schwierig. Einerseits dauert es meist einige Zeit, bis Ungereimtheiten auffallen, andererseits reagieren Betroffene bei Konfrontation vermeidend und brechen den Kontakt ab. Es mangelt ihnen an Krankheitseinsicht. Leichte Formen sind zudem von außen kaum zu erkennen.
Nach ICD-10 gelten grundsätzlich folgende Diagnose-Kriterien für das Münchhausen-Syndrom:
- anhaltende Verhaltensweisen/Selbstverletzungen, um Symptome vorzutäuschen oder selbst herbeizuführen
- äußere Motive für das Verhalten können nicht ausgemacht werden (zum Beispiel finanzielle Interessen)
- eine gesicherte körperliche oder psychische Störung, die die Symptome erklären könnte, fehlt
Weitere Alarmzeichen sind etwa, wenn Krankheitsgeschichte und Untersuchungsergebnisse nicht zusammenpassen, oder sich Beschwerden durch eine Behandlung nicht bessern. Auch Widersprüchlichkeiten in den Krankenberichten und übermäßig viele Arztwechsel sind auffällig und können den Verdacht erhärten. Zudem wird zum medizinischen Personal sehr rasch ein nahes Verhältnis aufgebaut.
Um die Diagnose eines Münchhausen-Syndroms zu stellen, bedarf es also psychologischer Erfahrung und es muss stets das Gesamtbild betrachtet werden.
Wie wird das Münchhausen-Syndrom behandelt?
Nicht nur ist die Erkrankung schwer zu erkennen, die fehlende Einsicht in Kombination mit einem Vermeidungsverhalten erschwert auch eine effektive Behandlung. Betroffene entziehen sich und lehnen Hilfe meist ab.
Im Zuge der Therapie steht zunächst die Linderung körperlicher Beschwerden, die etwa durch Selbstmanipulation entstanden sind, im Fokus. Basis für eine langfristige Behandlung bildet die Psychotherapie. Hier sind je nach auslösenden Faktoren verschiedene Ansätze möglich. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen haben sich besonders bewährt.
In jedem Fall ist eine stationäre Therapie sinnvoll. Diese kann auch abwechselnd mit einer ambulanten Therapie erfolgen (Intervalltherapie). Medikamentöse Behandlung ist in der Regel nur dann notwendig, wenn Begleiterkrankung wie Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen vorliegen.
Ist das Münchhausen-Syndrom heilbar?
Beim Münchhausen-Syndrom handelt es sich um eine schwerwiegende psychische Krankheit mit chronischem Verlauf. Die Prognose ist schlecht, da sich die Erkrankten kaum ihrer Krankheit bewusst sind und psychotherapeutische Hilfe oft verweigert wird. Liegen auch noch andere psychische Erkrankungen vor, verschlechtert sich die Prognose zusätzlich. Zudem erschwert der ständige Arztwechsel das Erkennen der artifiziellen Störung, weshalb oft eine Therapie oft nicht oder erst spät eingeleitet wird.
Wird das Münchhausen-Syndrom diagnostiziert, ist es ebenso wichtig, Hilfe für Angehörige zur Verfügung zu stellen. In der Regel haben auch sie einen langen Leidensweg hinter sich.