Mutismus – totale und selektive Form
Mutismus zeigt sich durch ein vollständiges (totaler Mutismus) oder teilweises (selektiver Mutismus) Nichtsprechen, wobei Sprechfähigkeit und Hörvermögen aber grundsätzlich vorhanden sind. Das Störungsbild wird den Angststörungen zugerechnet und tritt in der Regel bereits bei Kindern im Vorschulalter auf. Bei einer frühen Diagnosestellung und adäquaten Therapie ist die Prognose des Mutismus gut. Erfahren Sie mehr zu Symptomen, Diagnose und Behandlung von Mutismus.
Was ist Mutismus?
Mutismus leitet sich vom lateinischen Begriff "mutus" für "stumm" ab. Laut Definition handelt es sich dabei um ein Störungsbild, das durch vollständiges oder teilweises Nichtsprechen charakterisiert ist – und das, obwohl die Sprachentwicklung abgeschlossen, das Hörvermögen sowie der Sprechapparat unauffällig und die Sprechfähigkeit grundsätzlich vorhanden sind.
Formen: totaler, selektiver oder elektiver Mutismus?
In der Regel unterscheidet man zwischen zwei Formen, nämlich dem totalem und elektivem beziehungsweise selektivem Mutismus, wobei die zweite Form ungleich häufiger auftritt.
Elektiver und selektiver Mutismus meinen dasselbe, wobei elektiver Mutismus eine veraltete Bezeichnung ist. Da mit dem Begriff "elektiv" (auswählend) die bewusste Wahl des Schweigens in Verbindung gebracht wird, was eben nicht den Tatsachen entspricht, wird er heute in der Regel nicht mehr verwendet. Natürlich findet er sich aber noch in der Literatur.
- Totaler Mutismus: Betroffene stellen das Sprechen in sämtlichen Situationen gegenüber allen Menschen ein. Auch im familiären Rahmen wird demnach nicht gesprochen. Nicht selten werden außerdem Lautäußerungen wie Husten, Niesen oder Lachen unterdrückt, wenn jemand zuhört. Kommunikation findet durch Hilfsmittel wie Schreiben, Gestik und Mimik statt.
- Selektiver Mutismus: Das Sprechen findet personen- und situationsbezogen statt. Während im vertrauten Umfeld von Familie und Freund*innen normal gesprochen wird, häufig sogar überraschend viel, besteht in bestimmten sozialen Situationen – etwa in Bildungseinrichtungen oder im öffentlichen Leben – eine Unfähigkeit zu sprechen.
Mutismus bei Kindern und Erwachsenen
Selektiver Mutismus zeigt sich häufig schon sehr früh, meist im Alter zwischen zwei und fünf Jahren. Man bezeichnet ihn deshalb auch als Störung des Kindes- und Jugendalters. Zwar wird er oftmals bereits im Kindergarten beobachtet, das bedeutet aber nicht, dass Mutismus bei Erwachsenen nicht vorkommt. Hier hat sich das Störungsbild in der Regel bereits verfestigt. Man kann bei einer Diagnosestellung im Erwachsenenalter davon ausgehen, dass bereits in der frühen Kindheit Anzeichen vorhanden waren. Da selektiver Mutismus allerdings keine sehr gängige Erkrankung ist, wird er manchmal leider übersehen.
Je früher Mutismus diagnostiziert und behandelt wird, desto besser ist die Prognose – bis hin zur Beschwerdefreiheit. Doch auch im Erwachsenenalter können Betroffene Symptome mit einer passenden Therapie noch gut in den Griff bekommen. Selbst ganz ohne Behandlung bessert sich der selektive Mutismus im Laufe der Zeit häufig von selbst. Die Angstproblematik besteht in dem Fall allerdings weiterhin, wodurch die Kommunikation unter den eigentlichen Möglichkeiten bleibt. Das zeigt auf, wie wichtig eine Therapie ist. Nicht zuletzt steigt unbehandelt das Risiko, dass der selektive Mutismus in eine totale Form übergeht.
Man geht davon aus, dass etwa ein bis zwei Prozent aller Kinder im Vor- und Grundschulbereich von Mutismus betroffen sind. Mädchen leiden deutlich häufiger als Jungen unter der Störung, nämlich knapp doppelt so oft. Bei einer Mehrsprachigkeit sowie bei einer Sprachentwicklungsstörung steigt die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung außerdem an. Selektiver Mutismus wird manchmal mit Hochbegabung in Verbindung gebracht, was sich wissenschaftlich allerdings nicht untermauern lässt. Darüber hinaus gibt es zwischen Mutismus und der Autismus-Spektrum-Störung Überlappungen in der Symptomatik. Da es sich um zwei völlig unterschiedliche Störungsbilder handelt, ist eine stimmige Diagnosestellung ganz besonders wichtig.
Wie zeigt sich Mutismus?
Wie verhalten sich Kinder (und Erwachsene) mit selektivem Mutismus nun genau? Typisch ist in jedem Fall, dass in vertrauter Umgebung und mit vertrauten Personen, wie beispielsweise innerhalb der Familie, ganz normal gesprochen wird. Angehörige beschreiben häufig sogar ein reges und lebhaftes Kommunikationsverhalten. Dieses kippt allerdings in öffentlichen und unbekannten Situationen beziehungsweise mit fremden Menschen: Betroffene verstummen. Das mutistische Verhalten tritt häufig auch in der Kommunikation mit vertrauten Personen auf, sobald Fremde mithören können.
Darüber hinaus zeigt sich der Mutismus auch im mimischen und gestischen Ausdrucksverhalten. Werden Betroffene angesprochen oder mit ihrer Sprachlosigkeit konfrontiert, erstarren sie, wenden sich ab und/oder meiden den Blickkontakt. In manchen Fällen ist der Mutismus von weiteren Störungsbildern oder Symptomen begleitet, wie etwa sozialen Ängsten, Schlaf- und Essstörungen oder auch Einnässen. Ebenfalls ist es typisch, dass Betroffene selten von sich aus soziale Interaktionen beginnen und mitunter deutliche Probleme haben, ihre Gefühle auszudrücken. Nicht zuletzt werden oftmals auch lautsprachliche Äußerungen wie Lachen oder Weinen unterdrückt.
Zusammengefasst sind also folgende Symptome bei Mutismus typisch:
- In unbekannten sozialen Situationen und/oder mit fremden Menschen stellen Betroffene das Sprechen ein, obwohl die Hör- und Sprechfähigkeit normal entwickelt ist.
- In vertrauter Umgebung und mit vertrauten Menschen wird bei der selektiven Form normal gesprochen, oftmals sogar übermäßig viel (Nachholbedarf).
- In öffentlicher/unvertrauter Umgebung ist das mimische und gestische Ausdrucksverhalten herabgesetzt (beispielsweise Vermeiden des Blickkontakts, Erstarren oder Abwenden).
- Mitunter werden Lautäußerungen wie Lachen oder Weinen unterdrückt.
- Es werden kaum soziale Interaktionen eingegangen und der Gefühlsausdruck kann schwerfallen.
- Manchmal kommen weitere Krankheitsbilder/Auffälligkeiten hinzu, wie etwa soziale Ängste, Schlaf- und Essstörungen oder Einnässen.
Was ist die Ursache von selektivem Mutismus?
Wodurch genau selektiver Mutismus ausgelöst wird, ist nicht gänzlich geklärt. Es dürfte sich aber sehr wahrscheinlich um ein multifaktorielles Geschehen handeln, das heißt, es kommen mehrere Ursachen zusammen. Folgende Gründe werden angenommen:
- genetische Veranlagung, was Ängste und Schüchternheit angeht
- Probleme innerhalb der Familie, belastende Lebenssituationen und – seltener – Traumat
- übermäßiger Erregungszustand der Amygdala (Angstzentrum im limbischen System des Gehirns)
- Ungleichmäßigkeiten bei biochemischen Botenstoffen
- Auffälligkeiten oder Entwicklungsrückstände des Sprechens (Sprechen ist mit Scham verbunden)
Wie wird Mutismus diagnostiziert?
Die Diagnose Mutismus wird gemeinhin von dem*der Kinderarzt*Kinderärztin oder in einer Kinderpsychologie-Praxis gestellt. Spezielle Tests zur Diagnosestellung verwendet man in der Regel nicht, vielmehr müssen bestimmte Leitsymptome erfüllt sein. Folgende Kriterien sollten zutreffen:
- Je nach sozialer Situation und Interaktionspartner*innen, besteht eine Selektivität des Sprechens (normales Sprechen gegenüber Verstummen).
- Die sozialen Situationen, in denen gesprochen/nicht gesprochen wird, sind vorhersehbar.
- Es liegen altersentsprechende Fähigkeiten vor, was das Sprechen, den Ausdruck und das Sprachverständnis angeht.
- Die Selektivität des Sprechens besteht seit mindestens einem Monat.
Therapie: Was kann man gegen Mutismus tun?
Je früher eine geeignete Therapie startet, desto besser sind Verlauf und Prognose des Mutismus. Wartet man zu lange, verfestigen sich die Verhaltensmuster der Angststörung und es wird Betroffenen immer schwerer fallen, das Schweigen zu brechen. Das wirkt sich langfristig nicht nur negativ auf das Sozialverhalten und die Bildungschancen aus, auch Selbstbild und Selbstwert leiden. Rückzug, Isolation und eine erhöhte Gefährdung für Suizid sind die häufig die Folge.
Kinder, aber auch Jugendliche und Erwachsene mit Mutismus sind auf eine vielschichtige Behandlung angewiesen und vor allem auf Fachleute in dem Gebiet. Ziel ist es, Ängste abzulegen und in sozialen und öffentlichen Situationen nach und nach wieder Worte zu finden. Wesentlich sind daher psychotherapeutische Ansätze in Kombination mit Sprachtherapie und Logopädie. Darüber hinaus werden häufig auch Ergotherapie oder tiergestützte Therapien als hilfreich empfunden.
Bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Mutismus kommt es manchmal begleitend zum Einsatz von Medikamenten. In der Regel handelt es sich dabei um bestimmte Antidepressiva (Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer).
Der gewählte psychotherapeutische Ansatz richtet sich ganz danach, was für den Mutismus als ursächlich vermutet wird. Bei kritischen Lebenssituationen oder Traumata kommen traumaspezifische Konzepte (etwa die traumabezogene Spieltherapie) infrage, bei Konflikten innerhalb der Familie klassische Methoden der Familientherapie. Steht die Angststörung selbst im Vordergrund, hat sich der verhaltenstherapeutische Ansatz bewährt. Dabei wird die Angst zu sprechen als erlerntes Verhalten wieder verlernt, indem jene Denkmuster verändert werden, die diese aufrecht erhalten. Im Rahmen verschiedener Übungen kann das Sprechen in sozialen Situationen unter therapeutischer Begleitung trainiert werden. Das kann zunächst etwa in der Vorstellung passieren, bevor man dazu übergeht, die Mitarbeiterin im Supermarkt zu grüßen. Solche Interaktionen werden folgend schrittweise ausgedehnt. Eine weitere Form ist das sogenannte Kontingenzmanagement. Dabei wird Sprechen gezielt positiv verstärkt, beispielsweise durch Loben oder Belohnungen.
Die Therapiemöglichkeiten noch einmal im Überblick:
- Psychotherapie (beispielsweise Verhaltenstherapie, Familientherapie, traumabezogene Spieltherapie oder tiergestützte Therapie)
- sprachtherapeutische Behandlung
- Logopädie
- medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva (bei Jugendlichen und Erwachsenen)
- ferner: Ergotherapie, Entspannungstechniken (wie autogenes Training oder progressive Muskelentspannung nach Jacobson)
Tipps für Angehörige
Im Umgang mit Kindern mit Mutismus sind Eltern, andere Angehörige oder pädagogische Fachkräfte mitunter verunsichert. In erster Linie ist es wesentlich, dem Kind mit Akzeptanz entgegenzutreten und das Schweigen als Teil der Angststörung zu respektieren. Setzt man Betroffene unter Druck, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie sich zurückziehen. Vielmehr macht es Sinn, zugewandt zu bleiben und auf jeden Kommunikationsversuch – also auch non-verbale Formen – entsprechend positiv zu reagieren.