Selbstverletzungen bei Jugendlichen
"Ich habe mich beim Spülen verletzt" oder "Beim Brotschneiden ist mir das Messer abgerutscht"... So oder ähnlich können Schnittwunden an den Unterarmen oder den Handgelenken einleuchtend erklärt werden. Denn wer geht schon davon aus, dass sich jemand absichtlich in die Haut schneidet, mit Rasierklingen oder Messern. Schneidet, bis Blut fließt, und tiefer, und noch weiter. Aber es gibt immer mehr Menschen, die sich selbst regelmäßig selbst verletzen, um einer tiefen seelischen Not Erleichterung zu verschaffen. Dissoziative Automutilation nennen Mediziner dieses Verhalten. 0,7 bis 1 Prozent der Bevölkerung fügen sich auf unterschiedlichste Weise Verletzungen zu, Tendenz steigend, sagen Experten.
Intelligenz oder sozialer Status spielen keine Rolle
Sie kommen aus allen sozialen Schichten und Bildungsgruppen und überwiegend handelt es sich um Mädchen und junge Frauen. Eine übereinstimmende wissenschaftliche Erklärung für die ungleiche Geschlechterverteilung gibt es nicht. Diskutiert werden jedoch beispielsweise soziale und gesellschaftliche Verhaltensnormen, die von Frauen einen anderen Umgang mit Aggressionen und Wut fordern als von Männern.
Mit der Folge, dass Frauen negative Gefühle und Gedanken eher nach innen tragen und gegen sich selbst richten als Männer. Einig ist man sich jedoch, dass bei Menschen, die sich selbst verletzen, traumatische Erlebnisse in der Lebensgeschichte eine große Rolle spielen. Denn auffallend häufig mussten diese Menschen sexuellen Missbrauch erleben, wurden körperlich misshandelt oder seelisch vernachlässigt.
SVV wegen Verlusterlebnis oder chronische Krankheit
Aber auch Verlusterlebnisse wie die Scheidung der Eltern können den Weg für selbstverletzendes Verhalten (SVV) bereiten oder chronische Krankheiten und wiederholte Operationen. Die Folge verschiedenster Traumatisierungen im Laufe des Lebens, gerade des kindlichen Lebens, kann eine gestörte Entwicklung der Persönlichkeit sein. Einer Persönlichkeit, die dann sehr viel verletzlicher ist als die anderer Menschen und die Gefühle nur schwer wahrnehmen und ausdrücken kann. Und die über die Selbstverletzung einen eigenen Weg findet, mit Problemen und widerstreitenden Gefühlen oder Verletzungen umzugehen und ihr Innerstes zu regulieren.
Breite Palette
Es gibt verschiedene Formen der Selbstverletzung. Schneiden, auch Ritzen genannt, ist dabei die am häufigsten vorkommende Form. Die meisten ritzen sich mit Rasierklingen, Glasscherben oder Messern, bevorzugt an Stellen, die man vor anderen unter Kleidung verstecken kann, wie an Armen, Beinen, Brüsten und Rumpf. Aber auch Verbrennen mit Zigaretten, Bügeleisen oder an Herdplatten, Verbrühen, Beißen, Schlagen des eigenen Körpers bis hin zu Knochenbrüchen, Haare ausreißen oder extremes Nägelkauen sind Beispiele für Selbstverletzungen. Und auch Essstörungen wie Bulimie oder extreme sportliche Betätigung.
Oft früher Beginn
Meist tritt das selbstverletzende Verhalten erstmals im Alter zwischen 16 und 30 Jahren auf. Aber man geht davon aus, dass sich heutzutage schon Kinder vor dem zwölften Lebensjahr erstmals Wunden zufügen. Selbstverletzung ist keine einmalige Tat, sondern hat für die Betroffenen Suchtcharakter: Das Verlangen nach der "Droge Selbstverletzung" wird als unbezwingbar empfunden, ein Verzicht darauf führt zu extremer seelischer Not mit Unruhe, Angst und gestörter Wahrnehmung der Umwelt. Und die Betroffenen steigern immer weiter die "Dosis", indem sie sich immer häufiger und schwerer verletzen.
Ein nicht endender Teufelskreis
Schon geringfügig erscheinende zwischenmenschliche Unstimmigkeiten können für die Betroffenen eine nicht zu bewältigende Belastung darstellen. Und dazu führen, dass sie in schwere seelische Not geraten, ohne dass die Umwelt dies wahrnimmt. Die Unfähigkeit, negative Gefühle zu bewältigen oder objektiv damit umzugehen, hat zur Folge, dass sich große Hilflosigkeit, Frust und Wut breit machen, die sich gegen die eigene Person richten. Dieses Gefühl des Selbsthasses spaltet die Wahrnehmung: Die Betroffenen berichten von einer großen Leere, sie fühlen sich innerlich wie tot, wie benommen, ihren Körper abgetrennt vom Bewusstsein, von der Wirklichkeit, gefühllos. Und nur noch ein einziger Wunsch beherrscht ihr Denken: wieder etwas fühlen, endlich diesen furchtbaren Zustand beenden. Und plötzlich läuft das ganze "Ritual" der Selbstverletzung wie automatisch ab.
Die wenigsten Menschen spüren in diesem Moment den Schmerz, den sie sich zufügen, indem sie sich schneiden, brennen oder schlagen. Aber gleich, um welche Form der Selbstverletzung es sich handelt, das Ausführen bringt sofort eine unendliche Erleichterung. So, als würde ein bis kurz vor dem Platzen aufgeblasener Luftballon plötzlich losgelassen und der ganze Druck könnte entweichen. Mit einem Schlag macht sich Erleichterung breit, Entspannung, und mit dem Blut, das warm über die Haut den Körper verlässt, verlässt die unerträgliche Anspannung den Körper. "Und kurze Zeit kann ich mich wieder spüren, fühle, dass ich lebe!" So in etwa erklären viele den Zustand, in dem sie sich plötzlich befinden. Aber das positive Gefühl währt nur kurze Zeit, denn mit dem "Erwachen" distanzieren sich die Betroffenen von ihrer Tat und empfinden nun Ekel und Scham.
Ein Hilferuf in die Haut geritzt
Wer sich selbst verletzt, braucht Hilfe. Denn auch, wenn die Betroffenen meist heimlich agieren und sich vor den Reaktionen der Umwelt fürchten und schämen, handelt es sich bei dieser grausamen Art des Umgangs mit sich selbst um einen Hilfeschrei. Und obwohl erschreckend viele Menschen, die sich selbst verletzen, Selbstmordgedanken haben, werden die Verletzungen selbst so gut wie nie mit der Absicht begangen, sich das Leben zu nehmen. Für andere unverständlich ist die Selbstverletzung für die Betroffenen sogar eine Art Fürsorge, sie kümmern sich um ihren Körper, "sorgen" sich um ihn, auf die einzige Art und Weise, die ihnen zugänglich ist.
Nicht wegschauen
Die meisten Außenstehenden reagieren hilflos, wenn sie mit selbstverletzendem Verhalten konfrontiert werden, schauen weg oder machen den Betroffenen Vorwürfe. Wichtig ist jedoch zu wissen: Vorwürfe machen sich die Betroffenen selbst genug. Sie leiden schwer unter ihrem Verhalten und darunter, es nicht verhindern zu können. Richtig ist hingegen, den- oder diejenige behutsam anzusprechen; zu ermutigen und auch zu unterstützen, professionelle Hilfe zu suchen. Je schneller desto besser. Der erste Schritt kann dabei sein, sich einem Arzt, dem man vertraut, zu öffnen. Bei der Behandlung kommen Psychotherapie und eventuell auch Psychopharmaka zum Einsatz.
Nur Mut
Der Weg der Behandlung ist meist lang und oftmals steinig. Denn die Betroffenen müssen sozusagen eine neue, bis dahin unbekannte Sprache erlernen: nämlich ihre Hautschnitte in Worte zu übersetzen, dafür eine neue, bessere Ausdrucksform zu finden. Und sie müssen lernen, auf ihr altes, falsches, aber für sie gut funktionierendes Prinzip, die Selbstverletzung, zu verzichten.