Junge mit Tourette-Syndrom (Symbolfoto)
© Getty Images/Alexandr Kolesnikov (Symbolfoto)

Tourette-Syndrom: Ursachen und Symptome von Tourette

Von: Dagmar Reiche (Ärztin und Medizinautorin), Dr. rer. nat. Isabel Siegel (Diplom-Biologin und Medizinredakteurin)
Letzte Aktualisierung: 07.06.2024

Plötzliches Grimassenschneiden, abrupt ausgestoßene Schreie oder Schimpfwörter, spontanes Hüpfen oder Zucken mit den Schultern, das nicht unterdrückt werden kann: Menschen mit einem Tourette-Syndrom zeigen Verhaltensweisen, die auf Außenstehende befremdlich wirken können. Betroffene können wenig gegen diesen sogenannten Tics tun und sind entgegen mancher Vorurteile intellektuell auch nicht beeinträchtigt. Was sind die Ursachen für das Tourette-Syndrom?  Welche Symptome treten auf und ist Tourette heilbar? Wir beantworten die wichtigsten Fragen im folgenden Artikel.

Was ist das Tourette-Syndrom?

Das Tourette-Syndrom – kurz Tourette – ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die erstmals 1885 vom französischen Neurologen George Gilles de la Tourette wissenschaftlich beschrieben wurde. Bei Tourette handelt es sich um eine spezielle Form der Tic-Störung. In Deutschland sind Schätzungen zufolge bis zu ein Prozent der Gesamtbevölkerung, das heißt 800.000 Menschen, vom Tourette-Syndrom betroffen.

Ursachen: Was ist der Auslöser für Tourette?

Die genauen Ursachen des Tourette-Syndroms sind bis heute nicht geklärt. Als gesichert gilt jedoch, dass Tourette eine Erkrankung ist, die vererbbar ist. Sind Eltern, Geschwister oder sonstige Verwandte betroffen, ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Tourette-Syndrom zu entwickeln. Ein dafür verantwortlicher Defekt in einem Gen konnte aber bisher nicht nachgewiesen werden.

Zudem geht man davon aus, dass bei Tourette eine Störung im Bereich bestimmter Nervenzellen im Gehirn, den Basalganglien vorliegt, die wichtige Aufgaben bei der Durchführung von Bewegungsabläufen haben. Für das richtige Funktionieren sind sie auf Überträgerstoffe, sogenannte Neurotransmitter, angewiesen, vor allem Dopamin und Serotonin. Ist deren Stoffwechsel gestört, kommt es zu einem Ungleichgewicht bei der Bewegungskontrolle. Ein Beispiel für eine andere Krankheit, bei der eine Störung des Botenstoff-Systems zugrunde liegt, ist das Parkinson-Syndrom.

Symptome: Was sind die Anzeichen von Tourette?

Typisch für das Tourette-Syndrom ist das Auftreten von Tics. Laut Definition sind Tics plötzlich auftretende, unwillkürliche, teils heftige und sich wiederholende Bewegungen (motorische Tics) sowie Geräusche oder Wörter (vokale Tics), die ohne bewusste Kontrolle ausgeführt werden und die keinen bestimmten Zweck erfüllen. Sie ähneln unkontrollierbaren Reflexen wie Niesen oder Schluckauf.

Unter den Ticsstörungen gibt es einfache und komplexe Formen:

  • Zu den einfachen Tics gehören zum Beispiel Kopf- und Schulterzucken, Grimassieren und Augenblinzeln sowie Schnüffeln, mit der Zunge schnalzen, Räuspern, Bellen, Fiepen, Grunzen und Quieken.
  • Zu den komplexen Tics zählt man beispielsweise Springen, das Berühren anderer Menschen, Verdrehungen des Körpers, das Zeigen obszöner Gesten (Kopropraxie) oder auch selbstverletzendes Verhalten, wie sich schlagen, sich ritzen oder kneifen sowie – als vokale Formen – das Ausstoßen vulgärer Wörter (Koprolalie), das explosive Herausschleudern unpassender Worte und Gesprächsfetzen und das zwanghafte Nachsprechen von Lauten, Wörtern oder Sätzen (Echolalie) beziehungsweise das Wiederholen selbst gesprochener Wörter oder Satzenden (Palilalie).

Warum schimpft man bei Tourette?

Das ungewollte Aussprechen unflätiger oder obszöner Wörter ist eine Ticstörung bei ungefähr 15 bis 20 Prozent der Betroffenen. Die sogenannte Koprolalie tritt also nicht zwingend beim Tourette-Syndrom auf. Aber warum werden eigentlich Schimpfwörter verwendet und nicht harmlose Wörter wie Tisch, Buch oder Blumentopf?

Der Grund dafür ist bis heute noch nicht eindeutig geklärt. Fakt ist: Im Gehirn gibt es zwei getrennte Bereiche, die für die Sprache verantwortlich sind. Einer ist zuständig für die Formulierung inhaltlicher Ausdrücke und Sätze, ein anderer für die emotionale Lautäußerung.

Der zweitgenannte Bereich wird im limbischen System vermutet. Dabei handelt es sich um einen Teil des Gehirns, in dem unter anderem die Emotionen gesteuert werden. Wenn dieser Gehirnabschnitt durch eine Erkrankung wie Tourette verstärkt aktiviert wird, kann eine Koprolalie entstehen.

Wie verläuft das Tourette-Syndrom?

Die Krankheit beginnt fast immer in der Kindheit oder Jugend. Erste Symptome des Tourette-Syndroms treten bei Kindern im Grundschulalter, meist um das siebte oder achte Lebensjahr herum, auf. Jungen und Männer sind bis zu viermal häufiger betroffen als Mädchen und Frauen.

Zu den ersten Anzeichen gehören leichte Tics im Gesicht, wie das Verziehen des Mundwinkels, ein Blinzeln oder Zusammenkneifen der Augen. Die Ausprägung nimmt tendenziell bis zur Pubertät zu. Danach kann sie wieder abnehmen oder sich weiter verstärken und bis ins Erwachsenenalter anhalten.

In manchen Fällen verschwinden die Tics zwischendurch über einen längeren Zeitraum. Bei Stress, Anspannung und Ärger, aber auch freudiger Erregung nehmen sie häufig zu. Sie können von den meisten Betroffenen vorübergehend eingehalten werden, was aber in der Regel nur bedeutet, dass ihr Auftreten herausgeschoben, aber nicht verhindert wird. Der Verlauf des Tourette-Syndroms ist individuell sehr unterschiedlich und erlaubt keine Vorhersage über die weitere Prognose.

Wie wird das Tourette-Syndrom diagnostiziert?

Da Tourette häufig schleichend beginnt, kann es einige Zeit dauern, bis die Krankheit diagnostiziert wird. Die Diagnose erfolgt dann meist anhand der typischen Symptome, die im Arzt-Patienten-Gespräch erfasst werden. Dabei wird geklärt, welche Beschwerden auftreten, wann es zu diesen kommt, wie oft und in welcher Stärke diese auftreten. Auch Tourette-Erkrankungen in der Familie werden erfragt.

Mögliche Fragebögen, die zur Diagnose herangezogen werden können, sind die "Yale Global Tic Schweregradskala" (YGTSS) oder die "Yale Tourette Syndrom Symptomliste" (YTSSL). Diese werden durch die Betroffenen selbst oder (bei Kindern) die Eltern über mehrere Wochen selbstständig ausgefüllt.

Um andere Krankheiten auszuschließen, werden zudem Schilddrüsen-, Nieren- und Leberwerte standardmäßig überprüft.

Therapie: Wie kann man Tourette behandeln?

Die aktuell zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten bei Tourette können die Tics zwar verringern, aber die Erkrankung nicht heilen.

Oft ist eine Behandlung nur dann nötig, wenn die Betroffenen durch ihre Symptome stark beeinträchtigt sind. Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche, um psychosozialen Folgen (Rückzugsverhalten, Resignation) vorzubeugen. Es stehen verschiedene Behandlungsmethoden zur Verfügung:

  • Verfahren aus der Verhaltenstherapie zielen darauf ab, das Vorgefühl, das einem Tic vorausgeht, bewusst wahrzunehmen und den Tic zu unterdrücken.
  • Medikamente wie Neuroleptika, Dopaminrezeptor-Antagonisten oder noradrenerg-wirksame Substanzen können zur Verminderung von Tics eingesetzt werden. In Deutschland ist jedoch nur das Antipsychotikum Haloperidol für die Behandlung des Tourette-Syndroms zugelassen, die anderen Medikamente werden lediglich off-label, das heißt ohne Zulassung in dieser Indikation, angewendet.
  • In manchen Fällen können Injektionen mit Botulinumtoxin (auch bekannt unter dem Markennamen Botox®) in die Muskulatur dabei helfen, diese zu entspannen, insbesondere bei motorischen Tics.
  • Es liegen Hinweise auf positive Effekte von Cannabismedikamenten auf das Tourette-Syndrom vor. Cannabis in pharmazeutischer Qualität kann in Ausnahmefällen ärztlich verordnet werden. Die Wirkung ist aber noch nicht abschließend wissenschaftlich nachgewiesen und befindet sich in der weiteren Erforschung.

Bei schwer betroffenen erwachsenen Patient*innen, die von keiner anderen Therapie profitieren, kann eine tiefe Hirnstimulation zur Anwendung kommen. Dabei werden mittels dünner Elektroden leichte elektrische Impulse an bestimmte Regionen im Gehirn abgegeben. Dadurch werden zwar die Tics nicht vermindert, aber andere psychische Begleiterkrankungen können verbessert werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird die THS auch Hirnschrittmacher genannt.

Die Methode ist mit einem größeren operativen Eingriff verbunden, sodass Nutzen und Risiken vorher gründlich mit dem*der behandelnden Arzt*Ärztin abgesprochen werden sollten.

Welche Begleiterkrankungen treten bei Tourette auf?

Viele Menschen mit einem Tourette-Syndrom zeigen neben den Tics weitere Beschwerden oder Begleiterkrankungen (Komorbiditäten). Häufig tritt gleichzeitig eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auf, aber auch Zwangssymptome (Zwangsstörungen) – gekoppelt mit Perfektionismus – kommen vor. Manche Kinder haben Lernschwierigkeiten, leiden unter Wutanfällen oder mangelnder Impulskontrolle. Darüber hinaus werden gehäuft Depressionen, Autoaggressionen, Angststörungen oder Schlafstörungen beobachtet.

Wer hat das Tourette-Syndrom?

Es gibt zahlreiche berühmte Persönlichkeiten mit Tourette-Syndrom. Dazu zählen der Sänger Lewis Capaldi, die Sängerin Billie Eilish und der Fußballer David Beckham.

Manche Forschende vermuten, dass auch Wolfgang Amadeus Mozart an Tourette litt. Sie begründen dies durch Mozarts Briefe an seine Cousine, in denen sich der Hang zu unsinnigen Wiederholungen (Palilalie) und zum Benutzen sehr derber Ausdrucksweisen zeigte (Koprolalie).

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